Arno Schmidt

– eine kleine Einführung in Werk, Person und Umfeld

von Peer Schaefer

Inhalt

01 Einleitung

Innerhalb der Literaturwissenschaft ist Arno Schmidts hoher Rang in der Riege der deutschsprachigen Schriftsteller relativ unbestritten. Innerhalb der nichtwissenschaftlichen Leserschaft ist dagegen eine eigenartige Spaltung erkennbar: die große Mehrheit der literarisch Interessierten kennt Schmidt entweder nicht oder lehnt ihn als "schwierig" und "avantgardistisch" ab, während eine eingeschworene Gemeinde von Fans Schmidt zu ihrem Kultautor erhoben hat. Innerhalb der Fangemeinde hat sich zudem eine Schmidt-Philologie entwickelt, die mit fast religiöser Hingabe die stellenweise kryptischen Texte Schmidts zu "entschlüsseln" sucht – mit einem aus wissenschaftlicher Sicht zum Teil zweifelhaften Ergebnis. Alles in allem eine paradoxe Situation, in der jeder, der sich als A.S.-Leser zu erkennen gibt, entweder auf Unkenntnis oder Unverständnis stößt und – soweit Schmidt überhaupt bekannt ist – sofort als Mitglied einer als esoterisch wahrgenommenen Fangemeinde identifiziert wird. Es scheint unmöglich, Schmidt ebenso zu lesen wie Andersch, Döblin oder Frisch; nach dem Motto ganz oder gar nicht wird entweder Gegnerschaft oder Hingabe erwartet. Diese Sonderstellung Schmidts gilt es zu durchbrechen, um den Autor von Gegnern einerseits und selbsternannten Jüngern andererseits für die "normale" Leserschaft zurückzuerobern. Die Arbeit lohnt, denn auf den Interessierten wartet ein großer Autor und ein überraschendes und spannendes Werk.

Schwieriger Stil?

Schmidts Texte gelten als schwierig, er selbst wird teilweise als der "deutsche James Joyce" bezeichnet. Schmidts eigenartige Orthographie und Interpunktion, seine wortschöpferische Begriffsbildung und schließlich sein an tatsächlichen oder vermeintlichen psychologischen Erkenntnissen orientierter Stil (Gedankenfetzen und Momentaufnahmen) schrecken viele Leser ab. Dies ganz zu unrecht, denn – abgesehen von Spätwerken wie "Zettels Traum" – sind die Texte des 'Wortweltenerbauers' und 'Wort-Metzes' Schmidt durchaus lesbar. Mehr als der Wille, sich auf ungewohnte Erzählstrukturen einzulassen, wird dem Leser nicht abverlangt. Für das Textverständnis ist es auch keineswegs zwingend, die zahlreichen ungekennzeichneten Zitate zu erkennen und die eingestreuten kryptischen Bemerkungen zu enträtseln. Wer sich auf das Ungewohnte einläßt wird umso reicher belohnt, denn Schmidts Beobachtungsgabe und sein scharfer Verstand sind bewundernswert, seine Sprache ist reizvoll und sein Humor bizarr.

02 Leseproben

Nichts Niemand Nirgends Nie ! : Nichts Niemand Nirgends Nie ! : (die Dreschmaschine rüttelte schtändig dazwischen, wir konnten sagen & denken was wir wollten. Also lieber bloß zukukken.) — Aus: Kaff auch Mare Crisium

Schon von weitem hörte ich, wie das Klavier unter Emmelines Pfötchen nervös brüsselte; dicke Blasen stiegen auf; im Baß blubbte es manchmal suppen (und mir war wieder, als stände ich als Junge vor meinem Aquarium : da hatten sich die Luftfontänen auch immer so hochgewriggelt. — Aus: Sommermeteor (Erzählung)

Wir haben alles mit Schmerzen versehen: das Licht 'verbrennt'; der Schall 'erstirbt'; der Mond 'geht unter'; der Wind 'heult'; der Blitz 'zuckt'; der Bach 'windet sich' ebenso wie die Straße. / Mein Herz pumpte die Nacht aus: Blödsinnige Einrichtung, daß da ständig sonne lackrote Schmiere in uns rum feistet ! N steinernes müßte man haben, wie beim Hauff. — Aus: Das steinerne Herz

"Jadas Kliemaa: von Liemaa: ist priemaa" ?! Was müssen das für gefühllose Automaten sein, die sowas
a) texten & musiken,
b) singen und platt schallen,
c) kaufen womöglich,
d) im Rundfunk bringen,
e) sich ruhig (oder gar angeregt) anhören!
(: Wer das Alles macht?!: der berühmte 'Deutsche Mensch'! Von der Christlich-Abendländischen Kultur GmbH!)
— Aus: Aus dem Leben eines Fauns

Schmidt über sich

Bin ich ein deutscher Schriftsteller vom zweiten Range (worin keine übermäßige Bescheidenheit liegen soll : wir haben keinen Mann ersten Ranges zur Zeit ! ; besser zu werden, haben mich ungünstige Umstände verhindert; man vergesse nie, daß mein erstes Buch erschien, als ich 35 Jahre alt war – also um 15 Jahre zu spät.) — Aus: Materialien für eine Biografie

03 Überblick über das Werk

Leviathan

Schmidts erstes veröffentlichtes Werk ist "Leviathan oder Die beste der Welten", das 1949 bei Rowohlt erschien. Schmidt beschreibt darin das Schicksal von Flüchtlingen, die im Februar 1945 bei bitterer Kälte einen stillgelegten Zug wieder in Betrieb nehmen und sich auf den Weg nach Westen machen. Eindringlich wird die Orientierungslosigkeit der durch den Krieg Entwurzelten geschildert, die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens angesichts des Kriegswahnsinns, der Verlust der Selbstgewißheit angesichts einer in Trümmer gehenden Welt. Einige der Flüchtlinge suchen ihren Trost im Glauben, während der Ich-Erzähler sich fatalistisch dem von ihm als "Weltmonster" (Leviathan) wahrgenommenen Universum ergibt. Schilderungen von Kälte, Hunger, Elend und Tod wechseln sich ab mit Gesprächen der Reisenden über das Wesen der Welt und die Existenz Gottes. Zwischen allem der Krieg, ideologisch verblendete Hitlerjungen und eine chancenlose Romanze. Die im "Leviathan" eingeführte Gliederung der Handlung in unverbundene, bruchstückhafte Einzelszenen bewirkt zusammen mit Schmidts unverwechselbarer Sprache eine enorme erzählerische Dichte. Bedrückend, faszinierend, wütend.

Aus dem Leben eines Fauns

Die Erzählung "Aus dem Leben eines Fauns" berichtet in der Form eines Gedächtnisnotats über das Doppelleben des Kreisbeamten Heinrich Düring vom Februar 1939 bis September 1944. Obwohl innerlich oppositionell, lebt er nach außen hin angepaßt. Zu Frau und Kindern ist jeder emotionale Kontakt verloren gegangen; der Tod des eigenen Sohnes im Kriege berührt in kaum, aus der zerrüteten Ehe flüchtet sich der am Beginn der Erzählung 51jährige in eine Beziehung mit einer Schülerin. Als ihn der Landrat damit beauftragt, Materialien für ein Kreisarchiv zu sammeln, kommt dies seinen Neigungen durchaus entgegen. Begeistert trägt er alte Behördenakten, amtliche Anzeiger, Kirchenbücher und Chroniken zusammen und rekonstruiert die Geschichte seines Landkreises. Dabei stößt er auf die Spuren eines um 1800 desertierten Soldaten der französischen Armee, der im Wald wie ein Faun (Waldgeist) gelebt hat. Bei näheren Nachforschungen findet er dessen immer noch vorhandene Hütte und baut sie zu einem Liebesnest für sich und seine Geliebte aus. Ein Bombenangriff auf eine benachbarte Munitionsfabrik bewahrt beide vor der Entdeckung ihrer Hütte und ruft weltbrandartige Szenen hervor; ein "Happy End über dem Abgrund der Hölle" (so treffend der Klappentext der Fischer Taschenbuch Ausgabe).

Brand's Haide

Zusammen mit "Aus dem Leben eines Fauns" und "Schwarze Spiegel" bildet "Brands's Haide" als Mittelteil die Trilogie "Nobodaddy's Kinder". Während der Faun die Ereignisse während Nazi-Herrschaft und Krieg schildert und "Schwarze Spiegel" vorgreiflich die Schmidts Ansicht nach drohende vollständige Zerstörung der Welt im atomaren Feuer thematisiert, beschreibt "Brand's Haide" gewissermaßen als Bindeglied die von Mangel geprägte Nachkriegszeit. In dem autobiografische Züge tragenden Stück erführt der Leser wie ein (möchtegern) Schriftsteller sich so im Nachkriegsdeutschland durchschlägt, eine Fouqé-Biografie zu schreiben versucht, mit Kaffee und Zigaretten dealt und Kartoffeln, Holz und Schnaps 'organisiert'. Nebenbei wird eine wenig romantische Romanze ausgebreitet, die aber bald an der Unfähigkeit seiner Geliebten scheitert, sich mit dem materiellen Mangel abzufinden. Ort der Handlung ist Cordingen, Schmidts damaliger Wohnort.

Schwarze Spiegel

Ein einsamer Mann reist 1960 – fünf Jahre nach dem Atomkrieg – mit einem alten Fahrrad und zusammengesammelter Ausrüstung durch die nur noch von Skeletten bevölkerte Lüneburger Heide. Die inneren Monologe des Protagonisten lassen in ihrer beißenden Ironie und der erkennbaren fatalistisch-pragmatischen Geisteshaltung durchaus Schmidts Persönlichkeit durchschimmern. Der erste Mensch der ihm seit Jahren begegnet ist eine scheue Frau, die ihn bei der ersten Kontaktaufnahme fast erschießt und ihm mißtrauisch gegenübersteht. Die beiden durch den Wahnsinn der sie umgebenden Welt seelisch verstümmelten Menschen können sich zwar für eine Weile aneinander festhalten, sind letztlich aber zu beschädigt, um sich wirklich finden zu können. Die Weiterreise der Frau ist unausweichlich.

In der Erzählung gibt Schmidt seiner Verbitterung Ausdruck, von den geschichtlich-politischen Ereignissen um große Teile seines Lebens betrogen worden zu sein.

Das Menschen Leben : das heißt vierzig Jahre Haken schlagen. Und wenn es hoch kommt (oft kommt es einem hoch ! !) sind es fünfundvierzig; und wenn es köstlich gewesen ist, dann war nur fünfzehn Jahre Krieg und bloß dreimal Inflation. — Aus: Schwarze Spiegel (BA S. 201)

Vgl. auch Schmidts Einschätzung seiner eigenen literarischen Karriere, die er als durch den Krieg behindert ansah.

Die Gelehrtenrepublik

Eine im Jahre 2008 in Nordamerika spielende postapokalyptische Erzählung in zwei Teilen. Im ersten Teil bereist ein Journalist den für Zivilisten sonst gesperrten 'Hominidenstreifen' in den USA und entdeckt eigenartige, durch die radioaktive Strahlung entstandene Mensch-Tier-Mutanten ('Hominiden'): die hübschen, lieben 'Zenties' (Zentauren, d.h. halb Mensch halb Pferd), die grausigen 'Never-Nevers' (riesigen Spinnen mit Menschenköpfen) und die 'Flying Masks', Köpfe mit Flügeln (wohl eine Mensch-Schmetterling-Mischung). Im zweiten Teil gelangte er an Bord der 'IRAS', einer schwimmenden Insel für Künstler und Wissenschaftler, die nach dem Atomkrieg als entmilitarisierte neutrale Zone gegründet wurde, um für den Fall eines weiteren Krieges die wichtigsten Personen und Kunstwerke zu retten (die Idee dazu taucht erstmals in "Aus dem Leben eines Fauns" auf, vgl. BA. S. 363ff.). Wie er feststellen muß, ist jedoch auch die IRAS in eine West- und eine Ost-Hälfte geteilt. Streitereien über den Kurs führen dazu, daß die westliche Hälfte ihre Motoren in die eine Richtung laufen läßt, die sowjetische Seite die ihren in die andere; die ganze Insel gerät in Rotation und droht auseinanderzureißen. Ernüchtert reist der Journalist ab.

Die Erzählung zeigt, wie die Intelligenz am Leben scheitert: die 'Gelehrten' an Bord der IRAS gefährden ihre Existenz durch unsinnige Zänkereien (ebenso wie die beiden Atommächte der Nachkriegszeit), während die tumben 'Zenties' ein fröhliches Leben voller Festgelage, Abenteuer und Sex führen. Daß Schmidt das Leben für eine Qual hält und Intelligenz für einen Schicksalsschlag (weil sie uns die Unsinnigkeit und Grausamkeit unserers Daseins deutlicher vor Augen führt), drückt er auch in der Erzählung "Tina oder über die Unsterblichkeit" aus:

Tina oder über die Unsterblichkeit

Was ist demnach das beste Rezept für ein Erdenleben überhaupt, oben wie unten ? : "Aufs Dorf ziehen. Doof sein. Rammeln. Maul halten. Kirche gehen. Wenn n großer Mann in der Nähe auftaucht, in n Stall verschwinden : dahin kommt er kaum nach ! Gegen Schreib= und Leseunterricht stimmen; für die Wiederaufrüstung : Atombomben !" — Aus: Tina oder über die Unsterblichkeit (BA. S. 187).

Dieser – natürlich im Kontext der 'Tina' zu lesende – Ratschlag läßt erkennen, daß Schmidt hohe Intelligenz eher als Lebenshindernis begreift (vgl. oben die Anmerkungen zur Gelehrtenrepublik). In der Erzählung berichtet er uns von einem Ausflug (übrigens per verstecktem Aufzug in einer Litfaßsäule) ins unterirdische Elysium, in das alle Menschen nach ihrem Tode einziehen. Lediglich eine Bedingung ist an Ankunft und Verbleib dort geknüpft: der Betreffende muß durch 'Verschriftlichung' auf der Erde weiterhin 'präsent' sein. Die große Masse der Bevölkerung, deren Namen lediglich in Geburts- und Heiratsbüchern erscheint, verbleibt daher nur ein paar Jahrhunderte im Elysium; ist auch der letzte schriftliche Hinweis auf ihre Existenz getilgt, so entschwinden sie ins Nichts. Dies ist durchaus als Privileg aufzufassen, denn das Leben im Elysium ist – ebenso wie das Leben auf der Erde natürlich – eine Last. Schriftsteller, deren Name und Werk die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende überdauert, müssen praktisch auf ewig ihre Existenz im Elysium erdulden. Sogar ein paar Höhlenmenschen, die sich leichtsinnigerweise mit Felszeichnungen verewigt haben, sitzen dort noch herum. Das Elysium selbst ähnelt sehr unserem Diesseits: Behörden, Verwaltungskram, gewöhnliche Häuser, Läden und Geschäfte. Verschmitzt, hintergründig, voller Witz. Lesenswert!

Kaff auch Mare Crisium

Das Werk hat weder 'Handlung' noch 'tieferen Sinn' und sollte auch nicht als 'Kunstwerk' betrachtet werden (das jedenfalls behauptet der Autor im Vorwort). Natürlich ist es dennoch eines der wichtigsten Werke Schmidts. Ein junges Paar aus der Großstadt (= Nordhorn) begibt sich ins Kaff Giffendorf in der Lüneburger Heide. Das berühmte "Nichts Niemand Nirgends Nie", am Beginn der Erzählung rhytmisch von einer Dreschmaschine ausgestoßen, droht auch dem Paar, denn 'Kaff' bedeutet nicht nur Dorf, sondern auch 'Spreu', und ob die beiden menschliche Spreu sind, auszusortieren, muß sich noch zeigen. Karl und Hertha besuchen in Giffendorf Karls Tante, die in ihrem Haus über reichlich Platz verfügt und die beiden dazu einlädt, bei ihr einzuziehen. Das Angebot ist verlockend, aber das junge Paar – dessen Beziehung im übrigen auch nicht mehr ganz in Ordnung ist – scheut die prognostizierten Konflikte mit der rüstigen Alten. Während langer Ausflüge und Spaziergänge erzählt Karl seiner Freundin eine von ihm erdachte Science-Fiction-Geschichte, die 1980 nach dem Atomkrieg auf dem Mond im Mare Crisium spielt. Angesichts der immer noch radioaktiv glühenden Erde findet dort zwischen amerikanischen und russischen Astronauten in einer Mondbasis ein Dichterwettstreit statt.

Niemand hat niemals-nirgends-nie schon einmal eine derartige Orthographie gesehen: "Roh-Mann-Tick" (Romantik) und "gleich sex & firz ich" (gleich 46) sind noch harmlose Beispiele. Etwas schwermütig, aber auch verschmitzt und witzig, etwas anstrengend beim Lesen; zweifellos einer von Schmidts wichtigsten Texten.

Das steinerne Herz

Ein Liebhaber von Staatshandbüchern entdeckt in alten Dokumenten, daß ein Haufen wertvoller Münzen in einem bestimmten Haus versteckt wurde. In eben dieses Haus zieht der Protagonist planvoll als Untermieter ein, um den Schatz zu heben. Bald beginnt er ein Verhältnis mit der Hausherrin; deren Mann ist gar nicht böse, denn er geht auch ein wenig fremd. Nach einigem hin und her nimmt die Ehefrau die Geliebte ihres Mannes mit in den Haushalt auf und (Bäumchen wechsel dich) alle vier sind im großen Haus versammelt und leben glücklich zusammen. Vorher bekommt der Leser aber noch niedersächsische Lokalgeschichte präsentiert und Land und Leute auf umwerfende Art geschildert. Leseprobe.

Kosmas und Enthymesis

Das eigenartige Weltbild des christlichen "Wissenschaftlers" Indikopleustes (Kosmas), über das sich Schmidt bereits in "Atheist ? : Allerdings !" mokiert hatte, wird in "Kosmas" (1954) endgültig der Lächerlichkeit preisgegeben (erste Erwähnung findet Kosmas schon im Jugendwerk "Der junge Herr Sielbold", BA. S. 307). In der Erzählung wird ein nüchtern denkender, den antiken griechischen Bildungsidealen verpflichteter Reisender um 500 n. Chr. mit der abstrusen, christlich-religiös motivierten Lehre vom 'Berg des Nordens' konfrontiert; die Nähe zu dem im "Leviathan" erwähnten Libanius ist unverkennbar. Diese für ein Prosastück eigenartige Themenwahl drückt Schmidts naturwissenschaftliche Interessen und Weltsicht aus.

Stürenburg Geschichten

Die "Stürenburg Geschichten" um den Vermessungsrat a.D. Stürenburg, 'Frau verwitwet Dr. Waring', ihre junge Nichte, den Apotheker Dettmer, den Hauptmann von Dieskau und andere großbürgerlich-preußische Gestalten sind 'Brotarbeiten', die Schmidt vorwiegend für Tageszeitungen anfertigte. Sie lassen erkennen, wie ein großartiger Schriftsteller auch mit herkömmlichen Erzählmustern lesenswerte Literatur schaffen kann. Stil und Interpunktion sind eigenartig, die Wortwahl erstaunlich (vgl. die obige Leseprobe aus "Sommermeteor"). Das Grundmuster der (teilweise sehr) kurzen Geschichten ist die oben genannte Runde mit Stürenburg im Mittelpunkt, die – gemütlich um den Kamin sitzend – seinen Anekdoten und Geschichten aus der Jugend lauscht. Trotz des konventionellen Aufbaus eindeutige 'Schmidtiana' und durchaus lesbar, wenn auch kaum zum literarischen Hauptwerk gehörig.

Seelandschaft mit Pocahontas

[fehlt]

04 Leseempfehlungen

Für den Anfang eignen sich aus dem Hauptwerk vor allem "Leviathan", "Seelandschaft mit Pocahontas" und "Aus dem Leben eines Fauns". Die sogenannten Stürenburg-Kurzgeschichten (Sommermeteor, Ein Leben im Voraus, Das heulende Haus, Todesstrafe bei Sonnenschein, u.a.) sind durch ihre erzählerische Leichtigkeit und die entspannte Einführung in die schmidtsche Orthografie und Interpunktion zwar angenehm zu lesen, bieten aber keinen adäquaten Einstieg in den literarischen Kernbereich von Schmidts Schaffen. Auch "Tina oder über die Unsterblichkeit" bietet einen leichten und amüsanten Einstieg.

'Fortgeschrittenen' seien insbesondere "Kaff auch Mare Crisium" und "Caliban über Setebos" empfohlen. Auch auf "Abend mit Goldrand" als eines von Schmidts Hauptwerken sei hingewiesen, jedoch fehlt bislang eine preisgünstige Ausgabe (außerdem wird Schmidts Spätwerk langsam anstrengend).

Ob "Zettels Traum" zum Lesekanon dazugehört ist letztlich Geschmackssache und hängt vor allem davon ab, ob man dieses Werk überhaupt in die Kategorie lesbare Literatur einordnen möchte (ganz abgesehen von der Schwierigkeit, eine finanzierbare Ausgabe zu finden, vgl. hier).

Wer gleich zur Tat schreiten und sich seinen ersten Arno Schmidt zulegen will, für den gibts hier Buchempfehlungen zum Kauf inklusive ISBN.

05 Der Reiz des Vertrauten

Schmidts Texte werden von eigenartigen Protagonisten bevölkert, die entweder als Landvermesser arbeiten oder eine Vorliebe für Vermessungstechnik, amtliche Landkarten im Maßstab 1:5000, fortgeschrittene Mathematik, Kosmologie oder Staatshandbücher haben. Da wird auf der Flucht im offenen Güterwagen ("Leviathan") ebenso wie in der Antike ("Kosmas") fröhlich über die Struktur des Universums diskutiert. Selbst bei einer selbstmörderischen Wanderung in die Wüste wird das Zählen der Schritte zwecks Landvermessung nicht vergessen ("Enthymesis"). Viele der Ich-Erzähler wissen alles besser und treten mit einer häufig nur schwer erträglichen Arroganz auf (vgl. z.B. "Aus dem Leben eines Fauns"). Diese Eigentümlichkeiten ziehen sich wie ein roter Faden durch Schmidts Werk. Hinzu kommen zahlreiche Selbstzitate Schmidts und die immer wiederkehrenden Namen seiner literarischen Hausgötter (Poe, Cooper, Tieck, Hoffmann, Cervantes u.a.). Dies alles ermöglicht jedem, der nicht gerade erstmalig eine Erzählung von Schmidt liest, häufige Erlebnisse des Wiedererkennens. Dadurch entsteht eine Atmosphäre des Vertrauten: man fühlt sich daheim in Schmidts Texten, man fühlt sich wohl beim Lesen und kann sich beständig seine eigene Textkenntnis bestätigen.

Der Reiz des Unbekannten

Auf der anderen Seite ist Schmidts Werk angefüllt mit zahllosen ungekennzeichneten Fremdzitaten. Sie als Zitate zu erkennen, ihre Quellen ausfindig zu machen und ihren tieferen Sinn an eben dieser oder jener Stelle zu ergründen ist eine spannende Detektivarbeit, die die literarische Bildung des Lesers herausfordert und oft genug überfordert. Hinzu kommen rätselhafte Bemerkungen und Einwürfe, die – obgleich beiläufig in den Text eingestreut und scheinbar unwichtig – dechiffriert werden wollen. Insgesamt macht Schmidts Werk den Eindruck einer gewaltigen Ansammlung von Selbst- und Fremdzitaten, literarischen Anspielungen, anzüglichen Allegorien, sprachlichen Spielereien und ganz allgemein von zu entschlüsselnden Geheimnissen. Nun, wer kann dem Zauber eines Geheimnisses schon widerstehen? Ein Geheimnis weckt Neugier und Forscherdrang. Ganze Arno Schmidt Dechiffrier-Syndikate entstehen, in denen die Mitglieder die neuesten Ergebnisse ihrer Recherchen austauschen und diskutieren können. Sogar eine eigene Zeitschrift, der Bargfelder Bote, beschäftigt sich (unter anderem) mit dem Problem der A.S.-Entschlüsselung. Auch die Gesellschaft der Arno Schmidt Leser (GASL) beteiligt sich mit ihrem Jahrbuch, dem Zettelkasten.

06 Lebensweg

Arno Otto Schmidt wurde am 18.01.1914 als Sohn von Clara Gertrud Schmidt, geb. Ehrentraut, und des Polizeibeamten Friedrich Otto Schmidt in Hamburg, Rumpfsweg 27, geboren (das heute dort stehende Haus wird jedes Jahr früh morgens zu seinem Geburtstag von Fans belagert). Arno war nach seiner älteren Schwester Luzie Hildegard (18.03.1911 – 24.04.1974) das zweite Kind der Schmidts. Bereits mit vier Jahren konnte Arno lesen. Seine "stockschlesischen" Eltern (so Schmidt selbst) fühlten sich – im Gegensatz zu ihrem Sohn – in der Hansestadt nicht wohl. So zog seine Mutter nach dem Tod von Schmidts Vater im September 1928 zurück in ihre Geburtsstadt Lauban (Schlesien). Von dort aus besucht Schmidt als Fahrschüler von 1928 bis 1933 die Oberrealschule, nach dem Abitur von März bis September 1933 die Höhere Handelsschule (beide in Görlitz). Anschließend absolvierte er von 1934 bis April 1937 bei den Greiff-Textilwerken in Greiffenberg eine Lehre als Lagerbuchhalter und blieb nach Abschluß der Lehre als Grafischer Lagerbuchhalter dort. Am 28. August 1937 heiratet er Alice Murawski, die ebenfalls bei den Greiff-Werken gearbeitet hatte. Schmidts Schwester emigriert mit ihrem jüdischen Ehemann 1939 in die USA. Nachdem Schmidt bereits 1939 zur Wehrmacht einberufen und schon nach einer Woche wieder entlassen wurde, wird er im April 1940 erneut einberufen und Einheiten in Schlesien zugeteilt. Im Jahre 1942 wird er nach Norwegen zu einer am Romsdalsfjord liegenden Einheit abkommandiert und verbleibt dort bis Januar 1945. Nach einem kurzen Urlaub wird Schmidt an die Westfront versetzt und fällt am 16. April in britische Kriegsgefangenschaft. Im November 1945 wird er entlassen und siedelt sich mit seiner Frau im Heidedorf Cordingen bei Fallingbostel an, wo beide bis Ende 1946 als Dolmetscher an der Hilfspolizeischule arbeiten. Schmidts Schwester schickt aus New York dringend benötigte Care-Pakete mit Verpflegung. Die Widmung in der Erstausgabe von "Enthymesis" (1949) lautet: "Mrs. Lucy Kiesler, New York, USA, meiner Schwester, ohne deren nimmer fehlende Hilfe ich längst verhungert wäre".

Das Leben als freier Schriftsteller

Ende 1946 schreibt Schmidt die Erzählung "Leviathan" und faßt den Entschluß, künftig als freier Schriftsteller zu arbeiten. Am 10. März 1949 erscheinen Auszüge aus dem Leviathan in der ZEIT; die erste vollständige Ausgabe der Erzählung wird im September desselben Jahres bei Rowohlt verlegt. Im Jahre 1950 ziehen die Schmidts nach Gau-Bickelheim (Rheinhessen) und 1951 nach Kastel (Kreis Saarburg) um. Am 14. Januar 1951 erhält Schmidt für den "Leviathan" den Großen Literaturpreis der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz. Im August 1952 trifft Schmidt erstmals mit Martin Walser und Alfred Andersch zusammen. Andersch verschafft ihm die Möglichkeit, sich durch literarische Funkessays im Süddeutschen Rundfunk ein regelmäßigen Einkommen zu sichern. Ein zusätzliches Zubrot verdient er sich mit Übersetzungsarbeiten aus dem Englischen; insgesamt wird Schmidt im Laufe seines Lebens annähernd 20 Bücher übersetzen. 1953 erscheinen "Die Umsiedler" und "Aus dem Leben eines Fauns". Von 1954 bis 1957 entstehen als Brotarbeiten die 'leichtverdaulichen' Stürenburg-Geschichten. Nach dem im Januar 1955 "Seelandschaft mit Pocahontas" erschienen war, wird Schmidt noch im April auf Grund einzelner Passagen des Buches wegen Gotteslästerung und Pornographie angezeigt. Im September zieht Schmidt nach Darmstadt, um für den Fall einer Anklage einen weniger katholisch-konservativ geprägten Gerichtsort zu erreichen. Im März 1956 wird dann tatsächlich Anklage gegen Schmidt und Alfred Andersch (den Herausgeber der Zeitschrift, in der die Seelandschaft erschienen war) erhoben. Im Juli wird das Verfahren dann aber eingestellt, nachdem der mit Andersch befreundete Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Staatsanwaltschaft in einem Gutachten bescheinigte hatte, daß es sich bei der Seelandschaft um "Kunst" handele. Im Jahre 1958 zieht Schmidt nach Bargfeld in der Nähe von Celle, wo er den Rest seines Lebens verbringen wird. Der SPIEGEL vom 13.05.1959 zeigt Schmidt auf dem Titel und widmet 17 Seiten einem äußerst kritischen Artikel. 1964 erhält Schmidt den Berliner Fontane-Preis; die Laudatio hält Günter Grass. In einer Auflage von zunächst 2000 Exemplaren erscheint 1970 "Zettels Traum". Das Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat (ein loser Zusammenschluß von AS-Forschern) wird gegründet. 1972 erscheint erstmalig der Bargfelder Bote, eine sich ausschließlich mit Schmidt beschäftigende philologische Zeitschrift. Im August 1973 erhält Schmidt den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt a.M. Bei der Entgegennahme des Preises und der Verlesung der Dankesrede läßt sich Schmidt von seiner Frau vertreten. Warum er nicht persönlich erschien ist bis heute nicht ganz geklärt; einige vermuten eine subtile Provokation, möglicherweise war aber auch Schmidts Gesundheitszustand stark angegriffen (Schmidt war schwer herzkrank und hatte bereits 1972 einen Herzanfall erlitten). Zur Gerüchtebildung vgl. oben Der gnatzige Alte. In der Dankesrede greift Schmidt die Gegenwartsgeneration als faul an und provoziert heftigen Widerspruch. 1977 trifft Schmidt erstmals mit Jan Philipp Reemtsma zusammen, der ihm großzügige finanzielle Unterstützung anbietet. Am 31. Mai 1979 erleidet Schmidt einen Hirnschlag, dessen Folgen er am 3. Juni im Celler Krankenhaus erliegt. Er wird eingeäschert und auf seinem Grundstück in Bargfeld beerdigt.

Ungereimtheiten

Die an dem Haus im Rumpfsweg 27 angebrachte Gedenktafel weist als Sterbeort fälschlicherweise Bargfeld statt Celle aus. Glaubt man dem Rowohlt-Autorenlexikon (Neuausgabe 1995, ISBN 3-499-16355-1), so hat Arno Schmidt bereits als 19jähriger in Breslau Mathematik studiert. Verschiedentlich wird als Geburstjahr statt 1914 auch 1910 angegeben. Ebenfalls im Autorenlexikon wird als Sterbetag der 6. und nicht der 3. Juni genannt. Wie kommts? Was die Gedenktafel und den Sterbetag angeht: reine Schlamperei. Was Geburstjahr und Mathestudium angeht: Berechnung. Und das kam so: als Schmidt 1945 in britische Kriegsgefangenschaft geriet, machte er sich um vier Jahre älter und verlegte sein Geburstjahr auf 1910. Warum ist nicht ganz geklärt, vermutlich wollte Schmidt im Kriegsgefangenenlager besonders anstrengenden Arbeiten entgehen, für die eine Altersgrenze festgesetzt war. Die zusätzlichen vier Jahre mit einem Mathestudium zu füllen war nur logisch, denn Schmidt war ein hervorragender Mathematiker. Später korrigierte er diese Manipulation aus Angst vor Ärger mit den Behörden nicht mehr. Schmidts Heiratsurkunde hat genau an der Stelle, wo sein Geburtsjahr eingetragen war, ein Brandloch...

Die A.S.-Stiftung

Die Schmidts hinterließen keine Kinder, Schmidts Schwester starb 1977. Um sein Werk zu sichern, gründeten Schmidts Witwe und der Philologe Jan Philipp Reemtsma 1981 die Arno-Schmidt-Stiftung. Mit Alice Schmidts Tod 1983 gingen der gesamte literarische Nachlaß sowie Haus und Grundstück in Bargfeld auf die Stiftung über, die seither ein Museum in Bargfeld betreibt und als Rechtsinhaber Schmidts Werke herausgibt.

07 Der gnatzige Alte

Schmidt hatte den Ruf eines "gnatzigen", grimmigen und menschenscheuen Einzelgängers, der sich am Ende der Welt im Heidekaff Bargfeld vor der Welt versteckt. Interviews gab er praktisch keine, seine Goethe-Preis-Rede wurde als provokant empfunden, und in seinen Werken präsentiert er bemerkenswert schlecht gelaunte Protagonisten und Erzähler. Möglicherweise entspricht dieser Ruf den Tatsachen. Jan Philipp Reemtsma, der Arno Schmidt persönlich kennengelernt hat, gibt an, daß "Schmidt sicherlich nicht der der Mensch ist, mit dem man gerne in den Urlaub fahren würde"; und über Alice Schmidt sagt er, "daß es einfacherer Lebenswege in der Welt gibt, als den, die Frau Arno Schmidts zu sein" (letzteres ist nachzulesen in: "Wu Hi?" – Arno Schmidt in Görlitz, Lauban, Greiffenberg, S. 237).

Andererseits ist aber auch Schmidts schwere Herzkrankheit zu bedenken; das Leben in der Großstadt hat ihn sehr angestrengt. Die flache Haidelandschaft hat er schon immer gemocht – also warum nicht nach Bargfeld?

und mir war schon als Kind nichts lieber, als weite Ebenen, mit Haide bedeckt, Moor eingemischt, darin Kiefernwaldungen auf Sandboden; kurzum karge, menschenleere Öde. — Aus: Materialien für eine Biografie

Und was die Interviews angeht: einige hat er gegeben. Und man darf nicht vergessen, daß er als avantgardistischer Minderheitenautor galt und von der Presse nicht gerade wie ein Filmstar umlagert wurde. Auch wird berichtet, daß sich ein Journalist in Schmidts Garten versteckte und ihn - als er zur Gartenarbeit herauskam – mit einem Interviewwunsch "überfiel". Schmidt reagierte erbost und warf den Mann hinaus; damit war die Legende vom presse- oder gar menschenfeindlichen Schmidt geboren.

Wissenschaftliche Weltsicht

Schmidt sieht sich auf der Seite der Vernunft, der Naturwissenschaft und der Aufklärung. Ein starkes Gefühl von intellektueller Überlegenheit und die unbeirrbare Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Meinung, die "arrogant" zu nennen schon fast eine Untertreibung ist, paaren sich bei Schmidt mit einem aus den Erfahrung der Nazi-Zeit erwachsenen Humanismus. Neben seine ungeheure Belesenheit tritt ein bemerkenswertes naturwissenschaftliches Wissen. Noch während des Krieges hat Schmidt aus privatem Vergnügen (!) an einer hochstelligen Logarithmentafel gearbeitet und zur Vereinfachung der Arbeit aus eigener Kraft mathematische Formeln und Verfahren erarbeitet, die der zeitgenössischen Mathematik zwar bereits bekannt waren, nicht jedoch Schmidt. Auch der "Leviathan" offenbart fundierte naturwissenschaftliche Kenntnisse des Autors, was ihm von Seiten der Kritik den Vorwurf der Angeberei einbrachte. Bereits in den beiden frühen Erzählungen "Enthymesis" und "Kosmas" werden Auseinandersetzung um das richtige (naturwissenschaftliche)Weltbild thematisiert und mit bemerkenswert nüchterner und wissenschaftlicher Sprache geführt.

Atheist ? : Allerdings !

Wie viele andere naturwissenschaftlich denkende Menschen auch identifiziert Schmidt Religion mit Aberglauben. Hinzu kommt seine Verbitterung über das 'bleierne Jahrtausend' von 500 bis 1500 n. Chr. – dessen Armut an wissenschaftlich-technischem Fortschrit er dem Christentum anlastet – sowie seine Sympathie für den 1600 als Ketzer verbrannten Philosophen Giordano Bruno und allgemein sein Zorn auf die reaktionäre und verblendete Herrschaft der Kirche (vgl. das Essay "Atheist ? : Allerdings !"). Doch lassen wir Schmidt selbst sprechen:

Der Pfarrer tröstete die weinende Frau; er meinte : "Der Herr hat's gegeben; der Herr hat's genommen-" und, hol's der Teufel, der Feigling und Byzantiner setzte hinzu : "Der Name des Herrn sei gelobt !" (Und sah dabei stolz auf uns arme verlorene Heiden, die schamlose Lakaienseele ! – Das schuldlose Kind – Seine 2000 Jahre alten Kalauer von der Erbsünde kann er doch nur einem erzählen, der keine Krempe mehr am Hut hat : Haben diese Leute denn nie daran gedacht, daß Gott der Schuldige sein könnte ? Haben sie denn nie von Kant und Schopenhauer gehört, und Gauß und Riemann, Darwin, Goethe, Wieland ? Oder fassen sie's einfach nicht, und mampfen kuhselig ihren Kohl weiter durch die Jahrhunderte ? — Aus: Leviathan

Ich bin also nicht nur antiklerikal – das ohnehin! -, sondern auch antichristlich; oder präziser, bedeutend-allgemeiner, : antireligiös! Institutionen, die es nicht verschmähen (und nicht verschmähen können), mit den Mitteln des Fanatismus, der Massenbearbeitung, der Großen Oper, also der Tyrannei, zu operieren, lehne ich, ebenso wie ihre gleichnamigen politischen Brüder, für mich ab! Ich bekenne mich vorbehaltlos zur alten, heute bestgeschmähten Aufklärung : la lumière sans phrase! Allerdings würde ich nie so weit gehen, einen Gläubigen an Eigentum oder gar Leben zu schädigen – dergleichen Praktiken bleiben den Christen überlassen! ("Wir Heiden sind tolerant", hat Nehru einmal stolz gesagt.) — Aus: "Atheist ? : Allerdings !"

Ähnlich deutliche Passagen in der Erzählung "Seelandschaft mit Pocahontas" brachten Schmidt dann im Jahre 1956 eine Anklage wegen Gotteslästerung ein.

08 Buchempfehlungen

Die im Folgenden empfohlenen Bücher bietet einen guten Einstieg in Schmidts Werk. Einige der genannten Ausgaben sind limitiert und möglicherweise bereits vergriffen. Für eine vertiefte Suche eignen sich das Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) und der libri-Bücherkatalog, über die praktisch alle verfügbaren A.S.-Bücher online recherchierbar sind. Allerdings geben VLB und libri nur die beim Großhandel verfügbaren Bücher an; eventuell im Buchladen vorhandene Restexemplare werden natürlich nicht aufgeführt – nachfragen kann also nicht schaden.

Ausgewählte Erzählungen

Der billigste Einstieg in die Schmidt-Lektüre ist der Band Ausgewählte Erzählungen im Fischer Taschenbuch Verlag für 10,- DM, soweit er noch zu bekommen ist. Er enthält: Leviathan, Die Umsiedler, Brand's Haide, Aus dem Leben eines Fauns, Schwarze Spiegel, Seelandschaft mit Pocahontas, Tina oder über die Unsterblichkeit, Caliban über Setebos, Kühe in Halbtrauer, Die Abenteuer der Sylversternacht, Aus der Inselstraße, Kleiner Krieg.

Arno Schmidt: Ausgewählte Erzählungen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1998. ISBN 3-596-50143-1. DM 10,- (limitierte Ausgabe).

Erzählungen (bibliophil)

Bibliophilen sei der Band Erzählungen bei S. Fischer dringend anempfohlen. Leinenbindung, schöner Schutzumschlag, wunderbares Papier und klares Druckbild machen diesen Band zu einem Genuß (und das zu einem unschlagbaren Preis). Der Inhalt ist mit dem der oben genannten Ausgewählten Erzählungen identisch.

Arno Schmidt: Erzählungen. S. Fischer Verlag, X 1994. ISBN 3-10-373505-7. DM 29,80.

Bargfelder Ausgabe (wissenschaftlich)

Zur Zeit ist die Kassette 1 der wissenschaftlichen Bargfelder Ausgabe unschlagbar günstig (49 DM). Die Ausgabe verfügt über einen Variantenapparat und die Seitenzählung ist wissenschaftlicher Standard und zitierfähig. Bis auf die Spätwerke "Zettels Traum", "Abend mit Goldrand", "Die Schule der Atheisten" und "Julia, oder die Gemälde" ist der gesamte Bestand des erzählerischen Werks in den vier Bänden der Kassette vorhanden.

Arno Schmidt: Bargfelder Studienausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Haffmanns Verlag, Zürich 1992. ISBN 3-251-800-60-0 bzw. -61-0, -62-0, -63-0 (ISBN getrennt nach Bänden). DM 49,00 (Gesamtpreis für alle vier Bände, broschiert und im Schuber). Für 15 DM ist auch jeder Band einzeln erhältlich (wär' aber 'ne Sünde).

Stürenburgisches

Anhänger der "leichten Kost" (soweit man bei A.S. von so etwas überhaupt reden kann) werden an dem Band Sommermeteor ihre Freude haben. Die Geschichten um den Vermessungsrat a.D. Stürenburg werden hier genüßlich ausgebreitet.

Arno Schmidt: Sommermeteor. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1995. ISBN 3-596-29121-6. DM 10,80.

Biografische Quellen

Und wer Interesse an einem Buch mit biografischen Quellentexten hat, dem wird "Wu Hi?" sicherlich gut gefallen. Der kleine Band (251 Seiten) bietet eine Sammlung von Erinnerungen, Postkarten, Briefen u.a. von Schmidt, seiner Frau und Bekannten, sowie einige Fotos. Der eigenartige Titel geht auf eine Anekdote zurück, der zufolge der junge A.S. in der Bahn von einem Fremden in schlesischem Akzent nach dem Ziel seiner Reise gefragt wurde (und dieser den Fremden für einen Ausländer hielt). Insgesamt bietet das Buch hervorragende Quellen, aber nur wenig Auswertungen.

Jan Philipp Reemtsma, Bernd Rauschenbach (Herausgeber): "Wu Hi?" – Arno Schmidt in Görlitz, Lauban, Greifenberg. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1995. ISBN 3-596-12453-0. DM 16,90.

Zettels Traum
Abend mit Goldrand

Wer sich für die beiden "Hauptwerke" Schmidts interessiert, dem sei nicht verschwiegen, daß es beide in Buchform zu kaufen gibt: Zettels Traum für 786 DM (ISBN 3-10-070607-2) bzw. in der spottbilligen aber plünnigen Studienausgabe für 498 DM (ISBN 3-10-070603-X) und Abend mit Goldrand für 328 DM (ISBN 3-10-070604-8) bzw. in der B-Ausgabe für lächerliche 198 DM (ISBN 3-10-070605-6). Wenn einem Bücher so billig hinterhergeworfen werden, kann man wirklich nicht meckern. Aber mal im Ernst: das sind alles unglaublich schöne Bücher (und gar nicht plünnig). Was Zettels Traum anbelangt: Faksimile-Wiedergabe des Typoskripts im Originalformat (DIN A3) mit allen Randglossen und Handskizzen des Autors, 1334 Blätter ("Seiten" wäre 'ne Beleidigung), tolles Papier, super Leinenbindung, Schuber usw. So wie Bücher eben sein sollten, und sowas hat leider seinen Preis. Im übrigen ist Abend mit Goldrand auch als Band 3 der Kassette (Werkgruppe) 4 der Bargfelder Ausgabe zu haben; immer noch scheißteuer, dafür aber qualitativ mistig (natürlich nur im Vergleich zur 328 DM-Ausgabe).